„…das Tal erstreckt sich kilometerlang von Ost nach West. Es liegt ruhig da und erwacht mit der Sonne und schläft ein mit der Nacht. Und zwischendurch ist es der Spielplatz des Lebens. Das Tal ist offen und weit, viel Licht fällt ein. In seiner Mitte verläuft ein Fluss, sein Gefälle ist sanft und sein Wasser fließt langsam und ruhig vorbei an Stränden aus Kies und Sand. Keine Welle ist zu sehen und es scheint, als würde das Wasser schweben. Die Tiere des Tales fühlen sich sicher im Schatten des Waldes, unter seinem dichten Blätterdach, das getragen wird von kerzengerade gewachsenen grauen Stämmen. Man könnte das Tal für das Paradies halten, aber auch hier herrscht das Gesetz der Wildnis. Hier wird gejagt und gekämpft und manches Leben endet allein und verletzt im dornigen Gestrüpp. An manchen Tagen fällt erbarmungsloser Regen und der gesamte Waldboden wird dann zu einem undurchdringlichen Sumpf. Wolken aus Mücken machen sich gierig auf den Weg, sie erheben sich aus dem durchnässten Gras wie Nebel, manchmal scheint die klebrige Luft nur aus hungrigen Insekten zu bestehen. An solchen Tagen meint man, es gäbe einen unsichtbaren Herrscher im Tal, eine verborgene Kraft, die alle Fäden in ihren Händen hält. Die launisch ihre Spiele spielt und die nicht immer gute Laune hat. Man muss sich gut konzentrieren und seine Nase in den Wind halten und dem sprechenden Wasser zuhören. Denn dann ist er zu spüren, er ist da, er war es immer, der Geist, der Herrscher über diesen Ort.
Doch dann kamen die Maschinen und die Kettensägen. Und die flinken Gestalten, die ihre Axt und ihren Keil in die Bäume trieben wie einen Zapfhahn in ein Fass Bier. Sie spürten keinen Geist, keine ordnende Kraft. Und hätten sie ihn wahrgenommen, wäre es ihnen egal gewesen, sie hätten ihn ignoriert. Sie alle rannten durch dieses Labyrinth aus Holz und Stein und waren auf der Suche nach dem schnellen Gewinn und sie sahen keine alten Bäume, sondern Baumaterial. Sie schlugen und fällten und rollten die Stämme über den Waldboden hinab zum Fluss und alles rutschte und fiel und jedes Lebewesen ging in Deckung oder wurde mitgerissen, hinein in den Fluss, der schon immer dieses Tal formte wie eine schöpferische Hand, wie ein Bildhauer, der nun dabei zusehen musste, wie sein Kunstwerk Stück für Stück den Sägen und Äxten zum Opfer fiel…“
Auszug aus der Geschichte „Verletztes Tal“, „Das Farbenhoroskop“, 2024, Lars van Keuk