Drehbuch der Nacht

„…im letzten Traum sitzen meine Frau und ich nebeneinander in einem Bus. Er fährt durch eine Stadt, die wir nicht kennen und wir wissen weder, wie wir in den Bus gekommen sind noch wo wir uns befinden. Es könnte Urlaub oder Alltag sein. Wir spüren, wie der Bus bremst und beschleunigt. Wir wissen, dass der Bus sich fortbewegt und fühlen die Kurven der Straße und werden sanft hin- und hergeschaukelt. Wenn wir aber aus dem Fenster schauen, dann sehen wir immer dieselbe Litfaßsäule. Als sähen wir aus dem Fenster eines Hauses, als blickten wir durch das Fenster des Busses auf das immer gleiche Bild. Als würde der Bus nicht fahren, sondern stehen. 

Die Litfaßsäule ist vollgeklebt mit bunten Plakaten. Sie wird immer größer, als ginge sie auf den Bus zu. Als näherte sie sich langsam dem Bus, der schnell durch die kurvigen Straßen fährt. Wir sehen die Plakate, die immer größer werden, als würden sie wachsen; wir erkennen die Werbung, sehen die Schrift; sehen Männer und Frauen und Kinder. Und sie alle erwachen plötzlich zum Leben. Die Bilder, die Schrift und die Menschen. Die Buchstaben wandern über die Plakate, sie bewegen sich auf und ab, als wären sie schwerelos. Wie die Menschen, auch sie wechseln ihren Platz, als würde man Karten mischen. Sie tauschen beständig ihre Plätze und ich ahne, dies ist der letzte Traum und auch er will mir etwas sagen. Ich sehe die Plakate, deren Farben verschwimmen, sie fließen ineinander und trennen sich wieder. Die Plakate werden faltig, wie welke Blumen oder alternde Gesichter und langsam verschwindet die Farbe. Sie löst sich auf oder fällt unsichtbar zu Boden. Und mit ihr fallen die Gesichter und die Schrift. 

Der Bus fährt durch eine fremde, anonyme Stadt. Er fährt und durch sein Fenster sehen wir Stillstand, ein ewiges Standbild. Er fährt weiter und weiter, Kilometer für Kilometer, und alles um ihn herum scheint zu stehen. Das einzige, was dort lebt und sich bewegt, sind die Plakate einer Litfaßsäule.

Das Farbenhoroskop, 2024, Lars van Keuk, Auszug aus der Geschichte „Drehbuch der Nacht“