Waldmärchen

„… und nun sitzt sie so schon eine ganze Weile. Dort, wo vor ihr noch keiner war. Bewegungslos. Angelehnt an einen Baum, an seinen mächtigen Stamm. Über ihr seine gewaltige Krone. Die Knospen treiben aus, der Frühling hat erst begonnen. Wei hat ihre Augen geschlossen, bewegt sich nicht und spürt den Wald. Nimmt seinen Geruch und seine Geräusche wahr. Alles in ihr verstummt und alles um sie herum erwacht und gewinnt an Klarheit. Wie eine Sprache, die immer verständlicher wird oder wie Augen, die sich nachts langsam an die Dunkelheit gewöhnen. Wei bleibt ruhig und hält die Augen geschlossen, auch wenn sich Geräusche nähern. Wenn etwas an ihr riecht, an ihr schnuppert. Und dann wieder verschwindet. Der Baumstamm bewegt sich. Ganz sanft. Als würde er tief ein- und ausatmen oder langsam trinken. Sie hört im Stamm ein leises Rauschen, als ströme Wasser durch dünne Leitungen. Der Boden unter ihr bewegt sich ganz leicht, als seien dort überall Lebewesen.Vielleicht sind es Wurzeln, die wachsen oder Insekten, die durch die Erde kriechen. Überall ist Leben, überall hat es seinen Ort und seinen Platz. Die Luft durchziehen Botschaften und der Boden wird durchwühlt von unvorstellbaren Gestalten.

Weit entfernt singen Vögel. Wei spürt die Luft, die ihre Flügel beim Fliegen verdrängen. Ein zarter Hauch, fast wie ein Streicheln weicher Federn. Sie klingen wie ein Gruß aus den Tiefen des Waldes, dort, wo alles so dicht wächst, dass nahezu kein Licht den Boden erreicht und es auch tagsüber dort dunkel ist. Sie hört Insekten, die sie in der Luft umschwirren, als würden sie tanzen. Kleine Beine laufen über ihren Körper und Wei versucht sich vorzustellen, wie viele es seien mögen. Sie laufen wild durcheinander, kreuz und quer, auf und ab und sie wechseln ständig ihre Geschwindigkeit. Ein Chaos aus Füßen und Beinen und Richtungsänderungen. Eine Choreografie der Unordnung. Alles fliegt und summt und krabbelt und kriecht. Vielleicht sehen die Käfer und Ameisen und all die anderen Insekten in ihr eine neue Erde, einen fernen Planeten, der durch ihre Welt geflogen und hier gelandet ist. Ganz plötzlich und fremd, und den sie jetzt besiedeln. Ein neu erschaffener Kontinent.

In der Ferne hört Wei ein leises weiches Geräusch. Als würden Stoffe aneinander reiben, wie das Fell behaarter Beine. Pfoten werden vorsichtig aufgesetzt, Krallen schaben über den Boden. Etwas nähert sich, schleicht sich an, tief geduckt. Ein großes Tier kriecht auf sie zu und kommt näher.

Und steht jetzt dicht vor ihr. Es muss riesig sein, denn sie hört weit über sich ein tiefes Atmen, ein kehliges Knurren, das immer lauter wird, als beugte sich der Kopf des Tieres zu ihr hinab. Der warme Atem ist jetzt genau auf der Höhe ihres Gesichts, genau vor ihr und dort bleibt er. Sie spürt Augen, die sie anblicken. Wie ein heißer Scheinwerfer, der langsam an ihr herunterstreift. Als würde er sie abtasten. Wei spürt die Kraft dieses Wesens. Seine Macht. Würde sie jetzt ihre Augen öffnen, dann sähe sie in ein offenes Maul. Mit spitzen Zähne, wie eine Reihe aus Dolchen. Aber sie hält die Augen geschlossen und bleibt bewegungslos. Sie spürt die Atmung des Wesens wie einen Blasebalg, eine kraftvolle Flut pulsierender Wellen aus Luft. Sie fliegen in ihr Gesicht wie starke Windböen, ganz langsam, die Lungen dieses Tieres müssen gewaltig sein. 

Wei fühlt sich beschützt durch den Baum, an den sie ihren Rücken lehnt. Sie spürt ihre Haut und die Baumrinde, sie fühlt keinerlei Unterschied, Wei meint, ein Baum zu sein. Als zöge auch sie Wasser aus dem Boden und Energie aus dem Licht. 

Als könnte Wei hier für immer bleiben, weil alles sie umgibt, was sie zum Leben braucht. Alles ist da, im Boden und in der Luft. Das ist alles und mehr benötigt der Wald nicht. Dieses gewaltige Lebewesen.

Und dann hört Wei das Schlagen zweier Flügel, hunderte Federn schwingen durch die Luft. Sie schwingen kraftvoll vom Boden des Waldes Richtung Himmel und zurück. Immer wieder. Ihr Flügelschlag wirbelt und tobt, er peitscht dicht vor Weis Kopf auf und ab, immer schneller und kraftvoller und er klingt dabei wie ein aufziehender Sturm. Und dann hebt das Wesen ab und fliegt davon. Es gleitet ungesehen hinweg und verlässt sie als Geheimnis…“

Das Farbenhoroskop, 2024, Lars van Keuk, Auszug aus der Geschichte „Waldmärchen“.