Silbervogel

„…ich sehe keinen Weg, keinen Pfad, der zum Pass führt. Und würde ich ihn sehen, hätte ich Sorge vor dem Aufstieg. Der Anblick des Kessels macht mich ehrfürchtig. Ich spüre eine zerstörerische Kraft, eine gedankenlose Energie, die sich zufällig entladen kann, rücksichtslos und ohne Ziel.

Ich beschließe, umzudrehen, und im selben Augenblick höre ich ein dumpfes Rauschen, ein gewaltiges Dröhnen. Ich spüre Erschütterungen, der Boden bebt ohne Unterbrechung. Ich sehe, wie eine Flut aus Schnee die Hänge herabstürzt. Eine weiße Welle, sie rauscht talwärts, wie ein abstürzendes Flugzeug. Sie reißt alles mit sich, Steine, Felsen und Bäume. Sie werden zerstört von einem riesigen Pflug. Die weiße Wand rast auf mich zu wie ein Zug. Ich kann ihren Atem spüren und ich renne. Ich fliehe, rufe um Hilfe. Spüre den Tod, höre seine leisen Schritte.

Die Zeit bewegt sich kriechend und bleibt beinahe stehen. Sie neigt sich wie ein langsam fallender Baum. Ich höre meine panische Atmung, ich höre die heranrasende Kraft. Ich höre aus der Ferne Schritte, sie kommen näher, sie laufen aufgeregt immer schneller und ich ahne, wer mir folgt. Ich fühle mich verloren und allein, renne sinnlos dem Tod davon. Verfolgt von einem weißen tödlichen Sturm, der mich einholt, der mich umschließt. Eine rollende Walze aus Schnee. Ich schließe die Augen und ergebe mich und lasse mich fallen. Hinter mir höre ich Schritte, sie laufen immer schneller, sie erreichen mich und ich spüre, etwas greift nach mir.

Etwas ergreift mich und hält mich fest, es zieht mich zu sich und heraus aus dem tobenden Schnee, fort von den hetzenden Schritten. Der Baum fällt zu Boden und landet und die Zeit bleibt stehen.

Ich erinnere ein letztes Bild, es ist ein weißer Raum. Kaltes Weiß. Und darüber warme, silberne Flügel. Ich erinnere beschütztes Schweben. Flüsternde Federn. Ich fühle Geborgenheit. Und ich dachte an Engel…“

 

Auszug aus „Silbervogel“, „Lichtermeer“, 2023, Lars van Keuk